Liebe Frau Rave, werte Anwesende,
als ich am Dienstag dieser Woche durch den Wald lief, kreuzten vier Rehe
meinen Weg. Sie liefen ins Unterholz, blieben stehen, schauten sich um und
ergriffen nicht die Flucht in eine von einem Geschoss unerreichbare Ferne.
Sie beobachteten mich. Ich stand quasi „Unter Beobachtung“ - vielleicht
solange, bis ich in einen anderen Weg einbog und für sie keine Gefahr mehr
darstellte.
„Unter Beobachtung“ ist die Ausstellung der Malerin und Zeichnerin Friederike
Rave im Kloster Zarrentin überschrieben.
Beim ersten Lesen des Titels hielt ich ein wenig inne.
Denn das reine Verb „beobachten“ hat einen anderen Klang als das mit der
Präposition „unter“ versehene Substantiv „Beobachtung“.
Zumindest dehnt es die Zeit und lässt mich persönlich daran denken, dass
Menschen z. B. aus politischen Gründen in manchen Ländern „Unter
Beobachtung“ standen und stehen. In einem ehemaligen Grenzort schwingt
dieses einfach mit.
Auf der Einladungskarte zu dieser Ausstellung findet sich im QR-Code ein Logo.
Es zeigt eine Frau mit einem Fernglas und ist die Bildmarke der Künstlerin seit
ihrem Diplom.
Frau Rave, Sie bezeichnen sich als „Gast in der Natur“, als „Beobachterin“ und
„Zugereiste“.
Sie schreiben in einem Text zur Ausstellung: „Das Staunen über die Natur, die
Freude an ihrer Schönheit, aber auch das Befremdet-Sein über ihre Brutalität,
Gewalt, Wildheit, ihre Unkontrollierbarkeit hinterlassen vielfältige und
wechselhafte Eindrücke, die ich künstlerisch verarbeite.“
Die Formensprache von Friederike Rave kommt ohne einen harten Ton aus. Man
nimmt es dieser Sprache ab - der in Bildern zu uns sprechenden Künstlerin -
dass sie der Natur, dass sie unseren Mitgeschöpfen mit einer großen Empathie
begegnet.
In den graphischen Blättern hören wir auch humorvolle, manchmal irritierende
Töne.
Beides sind Sprachen, die Sie, Frau Rave, beherrschen. Sie kommen aus einer
Hand!
Farbenprächtig sind die Aquarelle der Apfelblüten-Reihe.
Der Duktus dieser Blätter lässt eine Verwandtschaft zur asiatischen Tusche-
Malerei erkennen. Schön sind sie komponiert. Die Vögel in den Goldenen
Schnitt gesetzt. Blüten und Blätter - hier eher Tupfer – wurden wie ein
Kalligraphie-Rankenwerk als Kontrapunkt gesetzt.Überhaupt die Vogelbilder.
Ich frage mich, warum viele Menschen den kleinen aber auch großen Vögeln so
viel Sympathie und Zuneigung entgegen bringen.
Liegt es daran, dass sie sich scheinbar unbeschwert in die Lüfte erheben und
wir Menschen mit unserer Masse und unserem Ballast der Schwerkraft nicht
entfliehen können?
Denn nur indirekt und mit hohem technischen Aufwand schaffen wir es, der
Anziehungskraft der Erde zu trotzen.
Oder ist es dieses:
Die englische Autorin Helen Mcdonald zitiert in ihrem Buch „Abendflüge“ ihren
Kollegen Mark Cocker der behauptet, „der simple Franz-von-Assi-Akt des
Vogelfütterns wecke unsere Lebensfreude und erlöse uns „auf eine
fundamentale Art und Weise.“
Oder ist es Ihre Lebensleichtigkeit, die sich oft in ihrem Gesang an unsere
Ohren schmiegt?
Die Vögel sind Mitgeschöpfe und begrüßen mich jeden Morgen mit ihrem Hin-
und Her-Flug, wenn ich aus dem Küchenfenster schaue. Vorher wecken sie mich
manchmal mit ihrem Gesang. Sie sind Teil unserer kleinen Lebenswelt. Und
überall auf der Erde werden sie in der Kunst und in der Poesie wertgeschätzt.
Da sind aber noch Gans, Hase, Fuchs und Kauz – alle in einer wunderbaren Art
gemalt.
Durch kreisrunde und rechteckige Flächen, die die fast monochrome Leinwand
durchbrechen, schauen sie uns an.
Dinge wie Tassen und Teller, mit denen wir täglich umgehen, sind ihnen
beigestellt.
So, dass wir wie im Märchen sagen könnten: “Wer hat auf meinem Stühlchen
gesessen, wer hat aus meinem Becherlein getrunken, wer hat von meinem
Tellerchen gegessen?“
Doch es ist die Realität. Die Tiere kommen uns näher, als wir denken.
Sind diese Bilder ein Gleichnis dafür, dass die Tiere sich aus ihren
angestammten Revieren auf den Weg in die Menschenwelt machen, weil wir
das „Machet-euch-die-Erde-untertan“ weiterhin exzessiv betreiben und damit
ihre Lebensräume immer mehr zerstören?
Friederike Rave öffnet uns mit ihrer Kunst die Augen für die uns umgebende
Natur und für unsere Mitgeschöpfe, selbst für den kleinsten Vogel.
Der Haiku-Dichter Issa schrieb vor 300 Jahren:
„Im Weltgetriebe
Auch so ein kleiner Vogel
Sein Nest sich baute.“
Ein Singvogel im Rosengebüsch. Ein Sperling in nächtlicher Stille im Blätterwald.
Träumerei, Fried, Harmonie, Zen? In der Aquarellserie "Wildheit und Fülle" von Friederike Rave ist die Natur von anderer, von zwiespältiger Art.
Ein Farbenrausch der Blüten: prachtvoll explosiv, doch zugleich erstickend und vergiftet. Eine Vielfalt der Blätterformen: graphisch zart, und doch auch wuchernd, surreal, verstörend.
Spiegelt diese Natur unbewusst auch die Brechungen des Alltags des Menschen? Das Ineinanderfließen von Schönem und Schrecklichem? Die Unberechenbarkeit und Doppelzüngigkeit des Schicksals? In den Bildern von "Wildheit und Fülle" trotzen kleine Singvögel der faszinieren schönen Übermacht von wirbelnden Blüten und abstraktem Blättergewirr. Auch das eine unbewusste Metapher ?
Die Serie "Wildheit und Fülle" beschäftigt FriederikeRave neben vielen anderen Themen bereits seit 2013 in immer wieder anderen Variationen. Ungefähr seit dieser Zeit lebt die Künstlerin - ursprünglich eine bekennende Städterin- in Mecklenburg am Rande des Naturschutzgebiets Schaalsee mit seinen wilden Mooren, Seen und Wäldern. Seither lässt sie die Thematik von der Kraft der unberührten Natur nicht mehr los - wieso viele Künstler vor ihr von den Romantikern des 19. Jahrhunderts bis zu den norddeutschen Expressionisten.